Der Galgenriegel & das Rätsel vom Tintenfleck
Unweit der kleinen Ortschaft Waldbach, ein Stückweit nach Norden, stand einst eine Stätte des Hochgerichts. Dort wurden jene Verbrecher, denen man die übelsten Schandtaten zur Last gelegt und sie in einem Prozess zum Tode am Strang verurteilt hatte, hinterher auch hingerichtet.
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Ehe diesen Übeltätern ihr letztes Stündlein schlug, wurde ihnen jedoch noch ein allerletzter Wunsch gewährt, sofern es irgendwie möglich war. So wollte es der Brauch. Und so kam es, dass eines Tages ein zum Tode Verurteilter um Feder und Tinte und etwas Büttenpapier bat. In seiner Verzweiflung wollte der Mann seiner Familie noch ein paar letzte Zeilen schreiben.
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Kaum hatte er den Abschiedsbrief fertig verfasst, nahm er das Tintenfass und schleuderte es mit aller Wucht gegen eine Felswand, die gleich hinter dem Galgen gelegen war. Der Fleck wollte lange Zeit gar nicht verblassen, und noch heute ist er ab und an zu sehen, um hinterher wieder zu verschwinden. Niemand vermochte dieses Rätsel bisher zu lösen.
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Das Ende des Schlossherrn von Hertenfels
Hoch droben auf dem Hauswiesenberg in Waldbach thronte einst ein Graf auf einer mächtigen, stolzen Burg. Die Menschen riefen ihn den Schlossherrn von Hertenfels und man erzählte sich, dass er ein sehr, sehr reicher Mann sei und sich die Schätze in seinen Kammern nur so türmten.
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Was die Bewohner des Jogllandes aber am allerbesten von ihm wussten, war dies: Der Reichtum des Mannes rührte daher, dass er gegen seine Untertanen besonders grausam, geizig und hartherzig vorging. Tag für Tag beutete er die Bauern und Handwerker und ihre Familien aus, schickte seine Büttel los, damit sie den Menschen mit Gewalt abpressten, so viel sie nur herzugeben vermochten, sodass ihnen selbst kaum das Nötigste zum Leben blieb.
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Lange Jahre ließen die Untertanen sich das gefallen, oft auch, weil sie in großer Angst vor den Reiterhorden des Grafen lebten und auch Sorge hatten, er könnte sie in den Kerker werfen oder von dem kleinen Stück Land, das sie bestellten, und aus ihren ärmlichen Häusern verjagen. Und so ertrugen sie es auch, dass dem Grafen hoch droben in seinem Schloss immer unsinnigere Abgaben einfielen, um seinen jetzt schon ermesslichen Reichtum noch weiter zu mehren.
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Eines Tages aber trieb es der Graf von Hertenfels zu bunt. Denn er verfiel auf die närrische Idee, sein größtes Feld in einen Weinberg zu verwandeln. Dazu befahl er, so viele Eier von den Bauern aus Waldbach und Umgebung einzusammeln, dass er den ganzen Acker damit düngen könnte.
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Die Menschen waren entsetzt, als sie von dem verrückten Vorhaben erfuhren, und rotteten sich zusammen. »Der Graf muss weg! Der Graf muss weg!«, schrien sie, und von Stunde zu Stunde wurden es immer mehr, die gewillt waren, sich gegen den Despoten aufzulehnen.
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Als ihrer viele Hunderte waren, machten sie sich – bewaffnet mit Dreschflegeln und Sensen und Äxten und allem, was sonst noch zur Waffe taugte – auf, um dem Grafen den Garaus zu machen. Der war jedoch heimlich gewarnt worden, dass sich drunten im Tal etwas gegen ihn zusammenbraute, und als die Meute auf das Schloss des Grafen losstürmte, hatte der Graf die Flucht ergriffen. Das Vögelchen war ausgeflogen, der Käfig war leer.
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Doch damit sollte der Graf nicht davonkommen, denn während die Horde das Schloss in Schutt und Asche legte, nahm eine Handvoll erzürnter Bauern die Verfolgung des Fliehenden auf, und tatsächlich bekamen sie ihn beim Roststoan, dem Raststein von Breitenbrunn, zu fassen. Dort erschlugen sie ihren ehemaligen Herren, und noch heute wird dieser Ort im Volksmund „Herrenstein“ gerufen.
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All dies liegt nun schon eine halbe Ewigkeit zurück, fünfhundert Jahre und länger. Die Burg, einst von den Herren zu Hertenfels errichtet und später auch von den Herren zu Krumbach bewohnt, welche viel mit dem Stift Vorau zu schaffen hatten, war bei dem Bauernsturm zerstört worden und verfiel, geriet in Vergessenheit. Bis vor mehr als 160 Jahren der Waldbacher Anton Königshofer, von allen nur Toni unterm Haus genannt, im Rieglerviertel Nr. 8 beim Einschlagen von Zaunpflöcken auf Überreste des Herrensitzes stieß.
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Seither erinnert man sich wieder des schändlichen Treibens des Grafen, dieses letzten und übelsten Schlossherren zu Hertenfels, und auch seines gewaltsamen Endes.
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